Ligurische Grenzkammstraße

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Unzählige Bilder formen sich zu einem jahrelangen Traum. Diese tanzen zu einem imaginären Film und nehmen den Geist gefangen. Die Aussicht, unzählige Kilometer Offroad mitten in Europa unterwegs zu sein, bietet stetig weitere Nahrung. Oftmals über 2000 Höhenmeter führen die hochalpinen Pisten durch einsame menschenleere Gegenden. Das Militär ist obendrein für den besonderen Fahrspaß entlang der italienischen – französischen Grenze Schuld! Diese entstanden aus Jahrtausende alten Handels- und Militärrouten. Zwischen 1880 und 1940 wurden die meisten Forts gebaut und während der Mussolinizeit intensiv genutzt und instand gehalten.
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In Gesprächen mit Freunden wird schnell klar: Ich träume nicht allein von der Ligurischen Grenzkammstraße! Augenblicklich sind Frank und Carsten Feuer und Flamme sie kommen mit. Die Idee wird Wirklichkeit. Ein gemeinsamer Termin wird schnell gefunden und und das Problem der weiten Anreise ist mit dem Autoreisezug schnell geklärt.
Zweifel nagen dann doch an dieser Entscheidung. Ist es richtig dieses Abenteuer anzugehen? Schaffe ich das überhaupt? Die Neugierde siegt jedoch über alle Zweifel und Frank wird zum Motivationstrainer. Er hat gut lachen, kommt er doch aus dem Offroadsport und sieht diese Tour als Aufwärmübung an. Ich bin mit meinen Gedanken nicht alleine. Carsten sorgt sich ebenso. Hat er doch dazu auch noch einen schwergewichtigen Grund: Seine BMW F800GS muss die Piste meistern.
Während Regen in langen Schlieren gegen das Fenster des Autoreisezuges prasselt, sinkt die Stimmung spürbar. Beim Abladen der Motorräder in Alessandria schickt die Sonne jedoch ihre ersten Strahlen zu Boden und lässt das Nass umgehend verdampfen. Voller Vorfreude werden die Motorräder über unzählige Bergrücken mit unendlicher Weitsicht gelenkt. Grau erhebt sich in der Ferne das Gebirgsmassiv, und wir kurven von Tal zu Tal dem Ziel entgegen. Fantastische Schräglagen spülen uns dann nach Tende. Hier versinken die Zeltheringe in den Boden des Campingplatz Municipal Saint Jacques.
Aufbruchsstimmung macht sich in der Morgenstunde breit. Voller Vorfreude werden die Motoren zum Leben erweckt. In La Briuge wird der sandige Einstieg schnell gefunden. Die Zufahrt an der Sixtinischen Kapelle Notre Dame des Fontaines lässt uns rasch wieder an den losen, weichen Untergrund gewöhnen. Stetig steigt der Weg durch den Wald mit bis zu 15 Prozent immer höher. Es öffnen sich die ersten Blicke auf die baumlose Berglandschaft. Unmittelbar werden wir an einer Kreuzung ausgebremst. Das Ziel, die Ligurische Grenzkammstraße, wird erreicht und die erste wundervolle Aussicht auf die wilden Berge ringsherum ausgiebig genossen. Hier muss eine Entscheidung getroffen werden: Wo fahren wir lang? Links oder rechts auf der ehemaligen Militärstraße? Unerwarteterweise saust eine Reisebekannte herbei und nimmt uns die Entscheidung ab. Wir folgen ihr auf dem Weg in Richtung Norden. Die LGKS führt weiter bergan. Die Strecke wird dabei immer härter, und der Lenker schlägt hin und her. Bald pflastern lose grobe Steinplatten den Weg. Mächtig stöhnen auch die Federelemente unter den immer rauer werdenden Geläuf. Der Hauptständer klopft mahnend an den Rahmen. Das ist nun definitiv nichts für Leute mit Schotterallergie! Die Strecke erfordert alle Konzentration und doch schweift der Blick auf dieser unendlich erscheinenden Piste immer wieder in die Ferne. Dann versperrt ein steiler Hangabrutsch mit viel Geröll den Weg. Es geht nur noch einspurig weiter. Bis tief in das Tal reicht der Abhang. Höhenangst hat hier nichts zu suchen!
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Weiter, immer weiter schottern sich die Stollen stets höher. Die Frage „Konzentration auf die Strecke oder Fernsicht?“ stellt sich auch nicht, denn beides zusammen geht einfach nicht! Daher verstummen auf 2045 Höhenmeter die Motoren. Nur der Wind belebt die Stille der Einsamkeit am Pas du Tanarel. Am fantastischen Aussichtpunkt wollen wir auch mal den Blick in die Ferne schweifen lassen. Der Einstieg bei La Brigue liegt uns nun tief im Tal zu Füßen. Der Wind fegt die Wolken zusammen. Verstohlen verbirgt der Monte Saccarello sein Haupt im Nebel. Mittels zehn Kehren vernichten wir einiges an Höhenmeter, um in das Tal nach Monesi zu gelangen. Ein beherzter Zug am Bremshebel läutet dort an einem Gasthof eine Pause zur Stärkung ein. Carsten mimt den Italienischübersetzer. Unbekannte Wortfetzen und merkwürdige Namen fliegen durch die Luft. Vorsichtig bestelle ich die mir bekannte Carbonara. Carsten und Frank ordern augenscheinlich nach dem Klang der Namen. Umgehend wird das Gewünschte produziert und serviert. Zwei Mal eine große Schale Schnecken im Gehäuse. Na dann: Guten Appetit!
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Nach der schmackhaften Stärkung rollen die Räder nicht nur im Schneckentempo über eine kurvige und kehrenreiche Asphaltpassage. In Mendatica wird der Blinker auf rechts gesetzt. Wir wollen doch lieber schottern. So fliegen die Stollen über eine gut ausgebaute Lehmpiste. Mächtige Querrillen werden dann als Sprunghügel genutzt. Die Landschaft öffnet sich, und die Aussicht beeindruckt. Der Nebel wartet hoch oben wieder auf uns, und der Monte Sacarello verbirgt sich immer noch im undurchsichtigen Weiß. Weitsicht wird von nun an ein Fremdwort und das Visier blitzartig von tausenden Tröpfchen bedeckt. Gemeinsam tasten wir uns vorwärts. Gleich hinter einem Tunnel geht es erneut bergab. Dafür gewinnt die Weitsicht, und eine traumhafte Hangstraße wird schnell durchbraust. Nun folgt die bereits bekannte Piste hinab nach La Brigue.
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Durch das Roya-Tal stürmen wir dem Tunnel de Tende entgegen. Vor diesem wird die Straße jedoch nach links verlassen. Das geschotterte Abbild des Stilfser Joch befindet sich zum Greifen nah. Wie das Röntgenbild des menschlichen Darmes liegen 46 Kehren eng übereinander gestapelt vor dem Lenker. Durch nur anfangs asphaltierte Serpentinen schrauben wir uns durch das Kehrenspektakel immer höher den Hang hinauf. Eine Straßenblockade aus Sand und Fels für zweispurige Fahrzeuge muss noch überwunden werden, um den Col de Tende in 1871 Meter zu erreichen. Die halb verfallene Festung Fort Central thront majestätisch auf dem Gipfel. Ein sattes Panorama über die unendlich erscheinende Bergwelt fesselt den Blick. Ebenso muss hier eine Entscheidung her: Abenteuerlich geht es in beide Richtungen weiter. Der durchwachsene Wolkenhimmel spricht für die kaum bekannte, französischen Variante der Ligurischen Grenzkammstraße: Baisse de Peyrefique. Über schöne staubige Pisten fliegen die Motorräder mit wehenden Staubfahnen am Fort de la Marquerie vorbei. Die kahle Landschaft lässt weite Blicke zu, und ein alter Felsabbruch erscheint im leuchtenden Algengrün. Auf geschotterter Strecke wird das Baisse de Peyrefique erreicht. Alte Bunkeranlagen ducken sich hier an die Berghänge. Die Bergwelt besticht hier aber auch durch märchenhafte Ausblicke, immer wieder das Auge fesselnd. Die Räder rollen durch einen kleinen Tunnel, und am Wasserfall de Valmasque finden sich Schneereste, auch im Hochsommer! Das Hinweisschild „Achtung 4×4 Conseillé“ erregt unsere Aufmerksamkeit und dann führt ein teils sehr steiniger Eselskarrenweg steil bergan. Die Herausforderung wird angenommen. Frank tänzelt mit seiner F800GS leichtfüßig voraus. Carsten hat Mühe, seine BMW auf Kurs zu halten. Mir geht es kaum anders, und so sind wir froh, als wir den höchsten Punkt dieses Abschnitts erreichen. Dort ernten wir von den Vollcrossern lobende Blicke und schnaufen erst einmal tief durch bevor der steile Abstieg beginnt. Von dort führen steile Geröllpassagen bergab. Lose Steinplatten lassen die Räder mehr rutschen als rollen. Schweißgebadet wird in Casterino eine Pause eingelegt und der Koffeinspiegel umgehend korrigiert. Die nächste steinige Piste führt vom Ort direkt in die Berge hinauf. Der holprige Weg wird immer steiler, Baumwurzeln durchziehen ihn. Lose schwimmender Steinbelag bringt die GS von Carsten zu Fall. Der Heidenau Scout muss bei diesem anspruchsvollen Geläuf aufgeben. Er liefert keine Traktion mehr. Vollcrosser zeigen uns mit ihren leichten Maschinen das Maß der Dinge. Wir müssen den Rückzug antreten und folgen einer sehr schönen Asphaltpiste nach Tende. Die Kurven dort entschädigen uns ein wenig für das entgangene Offroadglück.
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Strahlend blauer Himmel kitzelt uns in der Morgenstunde wach. Eine Entscheidung wird schnell getroffen: Das scheint das ideale Wetter für die Nordroute der LGKS zu sein. Um schnell beim Einstieg der Route am Fort Central zu sein, wird der Straßentunnel genutzt. Dieser spuckt uns mitten im Nebel auf der Nordseite aus. Was soll das?! Auf Asphalt kurven wir dennoch unerschrocken dem Fort Central entgegen. Hier befindet sich der nördliche Einstieg zum Abenteuer Ligurische Grenzkammstraße. An den Liften des Limoneser Skigebietes herrscht ein scharfer Wind und bläst die Wolken von dannen. Auf schmalen Trassen hangelt sich der Weg am Fels immer höher. Wir tauchen in die fantastische einsame Bergwelt ein und befinden uns schließlich weit oben über einem weißen Wolkenteppich. Ein Panorama der Extraklasse liegt uns zu Füßen. Unendlich viel Zeit wird vertrödelt, um all das zu genießen. Ein gutes Stück weiter hat Mutter Natur aber erneut ein besonders wahnsinniges Erdenbild gestaltet: Der Col de la Boaire gilt als der spektakulärste Abschnitt des Grenzkamm. Die berühmte „Showkurve“ befindet sich hoch oben über dem weißen Nebel. Gierig saugen wir die Bilder voller Anmut auf und müssen letztendlich die Motorräder weiter treiben.
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Ein Erdabgang lässt uns inne halten und diesen in Augenschein nehmen. Ein Italiener kommt zurück und meldet: Kein Durchkommen, Baustelle! Frank muss derweil die steilen Serpentinen hinunter ins Tal austesten. Der Italiener und zwei andere Motorradfahrer schauen dem Spektakel begeistert zu. Vermutlich schließen sie schon Wetten ab. Auf dem Rückweg kommt die BMW über einen Erdabrutsch ins Straucheln und kippt talwärts. Kopfüber bleibt sie antrieblos liegen, während der erfolglose Reiter eine Rolle tiefer talwärts purzelt. Wir beschließen, aus Sicherheitsgründen zu Fuß hinunter zu gehen und bergen zu dritt die Maschine. Schweißgebadet kommen wir zum Erdrutsch zurück und meistern diesen. Wir wollen versuchen durchzukommen. So setzen wir uns auf die Randsteine und sehen den Bauarbeitern zu. Diese erblicken uns und fahren doch augenblicklich den Bagger zur Seite! Die Freude über das unerwartete Durchkommen ist riesig, brav bedanken wir uns. Wir tauchen in eine einsame baumlose hochalpine Landschaft ein. Lockeres Geröll und extreme Steigungen führen durch eine Art steinerne Hochgebirgswüste. Im Rifugio Don Barbera kühlen die Motoren bei einer Pause knisternd ab. Anschließend werden jenseits der 2000-Meter-Marke grandiose Aussichten und auch der Fahrspaß weiter genossen. Südlich stoßen wir erneut auf die bereits bekannte Strecke am Tanarel Pass. Wieder meint es der Sacaello nicht gut mit uns: Der Berg verbirgt sein Haupt im dichten, weißen Nebel.
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Eine noch offene Rechnung namens Baisse d´Ourne muss aber auch noch beglichen werden und zwar die bisher nicht erfolgreich gemeisterte steile Piste dort. Ohne diese Steigung wird sie nun schnell aufgerollt. Die alte Militärstraße macht einen großen Bogen auf der Westseite des tief eingeschnittenen Roya-Tals und lockt mit herrlichen Blicken auf die imposanten Berge rund um die Ligurischen Grenzkammstraße. Gemeinsam genießen wir die Einsamkeit der Natur. Das muss natürlich angemessen genossen werden, und so teilen wir hier das mitgeführte Vesper auf, bevor sich die geliebten Räder wieder drehen. Auf kurvenreicher Strecke wird anschließend mächtig Höhe vernichtet, bevor wir im schönsten Sonnenschein Aussichten Tende wieder erreichen.
Es folgt der schnelle Einstieg bei La Brigue, um die Südroute der LGKS unter die Stollen zu nehmen. Auch steigen wir hier wieder durch die Wolken hinauf und böllern durch einen Wechsel aus Nebel und strahlend blauen Himmel. Die Piste bietet keine nennenswerten Schwierigkeiten. Sie schlängelt sich oftmals unterhalb des Kammes entlang. Leider wird die Abfahrt durch exponierte Kehren mangels Fernsicht auf das helle Gestein der Felsen ein wenig eingetrübt. Die tolle Straßenstecke nach Pina entschädigt und ein kräftiges italienisches Mittagsessen wird zur Stärkung eingenommen. Durch wunderschöne Kurven kratzen die Stollen auf Asphalt wieder hinauf zum Grenzkamm. Vollkommen alleine surfen wir dort durch die grandiose Landschaft, bis eine alte Bunkeranlage die nächste Rast einläutet. In der Ferne wird schon das Mittelmeer gesichtet. Voller Vorfreude brausen wir diesem entgegen. Doch zuvor liegt der nächste schwierige Abschnitt vor dem Lenker. Kernige Serpentinen mit lohnenden Panoramaausblicken und tiefer Schotter mit kindskopfgroßem Geröll wechseln sich ab. So ist auf dem steilen, schmalen Abschnitt allerhöchste Vorsicht geboten. Schon schlägt es Carsten das Vorderrad weg. Glücklicherweise kommt er an der steilen Abrisskante auf der Piste zum Liegen. Gemeinsam wuchten wir die BMW auf und rutschen mehr als wir fahren dem Mittelmeerstrand entgegen. In Camposso wird die gemeinsame Freude über die bezwungenen LGKS mächtig abgeklatscht. Auf einer Traumstrecke durch das Vallée de la Roya wird im Rhythmus des Walzers durch rote Gesteinsformationen der Staub aus den Stollen geschüttelt.
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Eine fantastische Zeit neigt sich dem Ende zu. Carsten spricht noch einen Wunsch aus: „Maira-Stura, ebenfalls eine alte Militärstraße, da müssen wir hin! Ein absolutes Muss, wenn man sich schon einmal in der Nähe befindet!“ So schwärmt er weiter. Das nächste weltabgeschiedenes Abenteuer wird einstimmig angesteuert. Die Bergspitzen erheben sich über den Wolken und packen das Tal in weiße Watte ein. Unzählige Stellen mit unbeschreiblicher Fernsicht auf dieses einladende Fleckchen Erde lassen die Durchschnittsgeschwindigkeit mächtig schrumpfen. In exponierter Lage ist der Einstieg zwischen zwei Bergflanken schnell ausgemacht. Hoch oben wird in das nächste weite Tal mit Traumpanorama eingetaucht. Eine großartige Landschaft, welche nicht von diesem Planeten zu sein scheint, öffnet sich. Eine unbeschreibliche Piste führt durch das abgelegene Maira-Tal. Die imposante Felsnadel Rocca la Meja küsst hoch oben den tiefblauen Himmel. Das Sahnestück von Tal wird in vollen Zügen genossen, um der nächsten Traumstrecke entgegen zu stürmen. Steil führt die Teerstraße hinauf in mächtig losen großen Schotter übergehend. An kahlen Berghängen rauschen wir an das Kirchlein Madonna delle Grazie vorbei. Murmeltiere verpfeifen uns auf der Strecke und eines läuft beinahe noch vor das Vorderrad. Die Schotterstrecke steigt stetig an, der Belag wird rauer. Bächlein durchziehen die Piste, spülen diese aus und was bleibt ist grobes Geröll. Durch einige Kehren zirkeln die Räder. Herden von Kühen schauen uns mit großen Glubschaugen ungläubig zu. Eine versperrt den Weg und unterstreicht ihr Wegerecht mit ihren Hörnern. Es werden noch einige Kurven zurückgelegt bis das Offroadglück auf dem Monte Bellino gipfelt. Vor Freude reiße ich die Faust auf 2.830 Metern in den unendlich scheinenden Himmel. Weit gleitet der Blick über die Gipfelzacken unter uns. Wir haben auch diesen Berg bezwungen!
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Dann geht es hinunter nach Tende. dort lassen wir die erlebnisreiche Woche Revue passieren. Drei Freunde, die die gleiche Sprache sprechen, durch Höhen und Tiefen fahren, finden gemeinsam den einen Termin für neues Gipfelglück: Der nächste Berg ruft!
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Text: Kai Sypniewski
Fotos: Frank Pusch, Carsten Scheibe & Kai Sypniewski

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