Ducati 900 SS Königswelle

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Frühjahr 1972: Das „200 Meilen Rennen von Imola“ gewann Paul Smart überlegen mit der neuen Königswellen Ducati 750 Desmo. Mit einem zweiten Platz unterstrich Bruno Spaggiari die Macht der Ducatis bei den seriennahen Maschinen bis 750 Kubikzentimeter. Einen besseren Start gegen eine Armada aus hochkarätigen Werksmaschinen und weltbesten Spitzenfahrern zur Rennpremiere konnte dem legendären Chefingenieur Fabio Taglioni mit der Ducati 750 SS nicht gelingen. Von 1954 bis 1982 war der geniale Techniker für Ducati tätig und beeinflusste wegweisend die italienische Motorradschmiede bis heute. Zum Höhepunkt seiner Konstruktionskunst wurde die im Jahre 1970 auf dem Mailänder Salon vorgestellte Ducati 750 GT der breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Schmal und zierlich war das Erscheinungsbild und passte so gar nicht in die damalige Zeit der Sportmaschinen. Verantwortlich war der neu entwickelte 90 Grad Zweizylinder Viertakt V-Motor. Dieser war der Fachwelt bereits von Harley-Davidson und anderen namenhaften Herstellern bekannt und versprühte oftmals nicht den Hauch von Sportlichkeit. Neu waren jedoch unzählige Änderungen, welche der Motorenbauart widerfahren sind, um ihn in die Fraktion der Sportfahrer zu katapultieren. So baute Fabio Taglioni diesen um 30 Grad nach vorne geneigt ein und erreichte damit eine wesentlich bessere Kühlung. Die Pleuel liefen auf einem gemeinsamen Hubzapfen und die Kurbelwelle war auf vier Kugellagern gelagert. Bohrung und Hub, in den Dimensionen von 80 x 74,4 mm, ließen sicherlich die damaligen Hersteller von V-Motoren aufhorchen. Jeder Zylinderkopf beherbergt nur eine Nockenwelle, die von einer Königswelle angetrieben wird. Dazu sind insgesamt neun Kegelräder notwendig. Der Antrieb der zwei Ventile pro Zylinder erfolgt auf konventioneller Weise mit Kipphebel. Zur Gemischaufbereitung wurde jedem Zylinder ein Vergaser zur Verfügung gestellt. Mit dieser genialen Konstruktion entlockte der Chefkonstrukteur dem Motor etwa 45 PS, welche die Maschine auf 180 Kilometern in der Stunde beschleunigten.
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Ducati entwickelte die GT noch weiter, um diese für den Renneinsatz vorzubereiten. Dazu wurden die Erfahrungen aus dem Rennsport der 1950er und 1960er Jahre genutzt. Schon damals fuhren die legendären Einzylinder-Königswellen-Maschinen mit desmodromischer Ventilsteuerung zahlreiche Siege ein. Diese Zwangssteuerung der Ventile wurde nun in den beiden Zylinderköpfen eingebaut und mit scharfen Rennnockenwellen versehen. Zwei 40er Dell`-Orto-Vergaser sorgen für die Gemischaufbereitung und die Doppelzündung liefert den zündenden Funken in der Brennkammer. Zwei offene Megaphon-Rohre lassen den Motor frei ausatmen und hoben die Leistung des Motors auf 86 PS bei 8.8oo U/min an. Im Rennbetrieb ließ sich der Motor sogar kurzzeitig auf 10.000 U/min überdrehen. Das Gewicht des Motorrades wurde mit 162 Kilogramm angegeben. In der Rennabteilung wurden insgesamt zehn dieser Rennmaschinen gebaut und in das prestigereiche Rennen geschickt.
Nach dem Sieg war angedacht, den Ducati-Fans fünfundzwanzig limitierte Imola-Replika als käufliches Superbike anzubieten. Mit einigen technischen Änderungen fanden letztendlich vierhundert Ducati Desmo 750 Super Sport den Weg auf die öffentliche Straße. So war es nur noch eine Frage der Zeit, mit mehr Hubraum und Leistung aufzuwarten und die Ducati 900SS Desmo wurde geboren.
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Wir schreiben das Jahr 2007: Ein lang gehegter Bubentraum geht endlich in Erfüllung. Als junger Mann stand Bernd Kruse damals an den Schaufenstern der Motorradhändler und drückte sich, wie viele andere auch, die Nase platt. Aus finanziellen Gründen konnte er sich zu damaliger Zeit keine Ducati 900 SS leisten. Schon alleine der technische Pflegeaufwand hätte eine Ebbe in der Kasse hervorgerufen und so fuhr er vorerst mit einer betagten BMW durch die Welt. Auch heute stellt der hohe Gebrauchtfahrzeugpreis von deutlich über 15.000 Euro immer noch ein zu bewältigendes Hindernis dar. So teilte sich Bernd mit seinem Freund dann den Anschaffungsposten der Neunhunderter. Bikesharing für Zwei war angedacht und sollte es werden. Also verfolgte Jürgen ausdauernd Angebote im Netz, fragte nach und begutachtete selbst die noch so kleinste Schraube bei dem vermeintlichen Objekt der Begierde. Dann war es endlich so weit und gegen 18 Uhr klingelte das Telefon bei Bernd. Um 20 Uhr lag dann das Geld zu gleichen Teilen auf dem Tisch. Noch tief in der Nacht fuhr Jürgen los, um morgens gegen sieben Uhr beim Verkäufer zu klingeln. Eine ausgiebige Besichtigung fand statt und die Parteien wurden sich handelseinig. Eine Probefahrt – Fehlanzeige!? Gekauft wie gesehen!
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Also wurde die Neuanschaffung ungefahren heimgebracht. Die erste längere Ausfahrt sorgte dann aber bereits für Ernüchterung. Ein Stehbolzen des liegenden Zylinders hatte sich gelöst und die Zylinderkopfdichtung ins Nirvana geschickt. So endete die erste Ausfahrt und brachte Arbeit statt Fahrfreude in die heimische Werkstatt. Nach der Reparatur glänzte die 900SS vorerst als Standuhr und wurde nur bei absolut sicherer Schönwetterlage von Jürgen ausgeführt. Ungezählte Tage bis zum nächsten TÜV mussten noch verstreichen bis Bernd sich seinem einzigartigen Motorrad besann. Vorsorglich sollten noch die Zündkerzen ausgetauscht und der sich gelöste hintere Vergaser sicher befestigt werden, damit aus der Ducati endlich ein zuverlässiges Motorrad wird. Auch im Alltag bewährte sich dieses und wurde selbst für Touren vom Hohen Meißner bis nach Hamburg genutzt. Dabei wählte Bernd mit Bedacht Straßen über Land aus. Ampelhopping und Autobahnetappen passen nicht zum Charakter dieses Motorrades. Erst so wird das seltene Motorrad zur wahren Quell der Fahrfreude. Es will gefordert werden und muss immer in Bewegung sein. Die Beschleunigung und Verzögerung gehen einher mit dem außergewöhnlichen Fahrerlebnis. Bei vorausschauender Fahrweise wird die Bremse kaum benötigt. Die Bremswirkung der zwei Brennkammern des V-Motor reicht bereits vollkommen aus, um dann mit dem entsprechenden Dreh am rechten Lenkerende katapultartig aus der Kurve zu beschleunigen. Offensichtlich sind schnelle langgezogene Kurven das bevorzugte Spaßrevier der Ducati und würzen entsprechende Ausfahrten.
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Pausen wurden jedoch immer wieder zum Problem. Dies lag nicht nur allein an Bernds unendlicher Fahrfreude begründet, die die Neunhunderter vermittelt, sondern vielmehr an der Startunwilligkeit des Motors. So hieß es stets weiterfahren oder eine Pause von mindestens einer Stunde einlegen. Doch wer will bei solch einem Motorrad so lange warten? Unzählige missglückte Ankickversuche und das schmerzhafte Zurückschlagen des Kickstarter ließen in Bernd eine Erkenntnis reifen: Ein Elektrostarter musste nachgerüstet werden! Nun sprang der Motor endlich auch ohne die geistigen Ängste, körperlichen Qualen und eventuell mögliche Schmerzen problemlos an. Lange Touren und den damit verbundenen Pausen wurde endlich der Schrecken genommen. Ganz langsam und unbemerkt mauserte sich die Duc heimlich zum Alltagsmotorrad für Bernd. Ob es der Weg zur Arbeit war oder ein 250 Kilometer Ritt über die Landstraße, stetig mehr wurden die Fahrten zur Wonne. Auch der schnelle Schönwettersprint auf der verwinkelten Heimstrecke durch den Meissner, sorgte immer wieder aufs Neue für Begeisterung. Der V-Motor läuft butterweich, lässt sich auch mit wenig Drehzahl fahren, zieht schon aus dem Drehzahlkeller kräftig an und fühlt sich bei 3.500 bis 5.000 Umdrehungen pro Minute am wohlsten. Das Triebwerk läuft äußerst vibrationsarm und begeistert mit königlichem Durchzug. Absolut kurvenwillig und spurtreu wird so jede Kurve zum Genuss. So ist es nicht verwunderlich, dass Bernd dann abschließend resümiert: „Mit solch einem seltenen und einzigartigen sowie charakterstarken Motorrad zu fahren, fasziniert unendlich und macht einfach mehr Spaß!“

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Technische Daten
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Motor
Typ: Luftgekühlter V-90° Zweizylindermotor
Hubraum: 853 ccm
Leistung: 48 kW bei 7.000 U/min
Bohrung: 86 mm
Hub: 74,4 mm
Kickstarter und nachgerüsteter elektrischer Anlasser

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Kraftübertragung
Getriebe: 5-Gang
Kupplung: Mehrscheiben in Ölbad
Endantrieb: Kette

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Fahrwerk / Bremsen
Rahmen: Unten offener Doppelschleifen-Rahmen, Motor dient als mittragendes Teil
Aufhängung vorne: Marzocchi Teleskopgabel
Aufhängung hinten: zwei Hydraulische Koni Dämpfer, dreifach verstellbar
Rad vorne: 18 x 3.50“ Speichenrad
Rad hinten: 18 x 4.60“ Speichenrad
Bereifung vorne: 3.50 V 18 oder 4.10 V 18
Bereifung hinten: 4.25 V 18 oder 120/90 V 18
Bremse vorne: Doppelscheibenbremse 280 mm
Bremse hinten: Bremsscheibe 229 mm

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Maße und Gewichte
Länge: 2.210 mm
Breite: 675 mm
Gesamthöhe: 1200mm
Sitzhöhe: 770 mm
Radstand: 1500 mm
Leergewicht: 220kg
Zulässiges Gesamtgewicht: 390 kg
Tankvolumen: 19 Liter
Höchstgeschwindigkeit: 195 km/h
Bauzeit: 1975 – 1982
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Neupreis: ca. 10.000 Deutsche Mark

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